Frühling
Sonne. Und noch ein bißchen aufgetauter Schnee
und Wasser, das von allen Dächern tropft,
und dann ein bloßer Absatz, welcher klopft,
und Straßen, die in nasser Glattheit glänzen,
und Gräser, welche hinter hohen Fenzen
dastehen, wie ein halbverscheuchtes Reh…
Himmel. Und milder, warmer Regen, welcher fällt,
und dann ein Hund, der sinn- und grundlos bellt,
ein Mantel, welcher offen weht,
ein dünnes Kleid, das wie ein Lachen steht,
in einer Kinderhand ein bißchen nasser Schnee
und in den Augen Warten auf den ersten Klee …
Frühling. Die Bäume sind erst jetzt ganz kahl
und jeder Strauch ist wie ein weicher Schall
als erste Nachricht von dem neuen Glück.
Und morgen kehren Schwalben auch zurück.
(Selma Meerbaum-Eisinger 1924 – 1942)
geschrieben 7.3.1940)
DER SOMMER
Er trägt einen Bienenkorb als Hut,
blau weht sein Mantel aus Himmelsseide,
die roten Füchse im gelben Getreide kennen ihn gut.
Sein Bart ist voll Grillen.
Die seltsamsten Mären
summt er der Sonne vor,
weil sie’s mag,
und sie kocht ihm dafür jeden Tag
Honig und Beeren.
Christine Busta
Guiseppe Arcimboldo, SOMMER
Was tut wohl die Rose zur Winterszeit?
Sie träumt einen hellroten Traum.
Wenn der Schnee sie deckt um die Adventszeit,
Träumt sie vom Holunderbaum.
Wenn Silberfrost in den Zweigen klirrt,
Träumt sie vom Bienengesumm,
Vom blauen Falter, und wie er flirrt …
Ein Traum, und der Winter ist um!
Und was tut die Rose zur Osterzeit:
Sie räkelt sich, bis zum April.
Am Morgen, da weckt sie die Sonne im Blau,
Und am Abend besucht sie der Frühlingstau;
Und ein Engel behütet sie still.
- Der weiß ganz genau, was Gott will!
Und dann über Nacht, wie ein Wölkchen, ein Hauch,
Erblüht sie zu Pfingsten am Rosenstrauch.
Mascha Kaléko (1907 – 1975)
Was brauchst du
Was brauchst du?
einen Baum ein Haus zu ermessen
wie groß wie klein das Leben als Mensch
wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie groß wie klein
bedenkst du wie kurz dein Leben
vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst
einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein
nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken
zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume
den Himmel
Friederike Mayröcker
„Die Ros‘ ist ohn warumb
sie blühet weil sie blühet
Sie achtt nicht ihrer selbst
fragt nicht ob man sie sihet.“
Angelus Silesius (1624 – 1677)
meine poesie ist die welt
ich schreibe sie jeden tag
ich schreibe sie jeden tag neu
ich sehe sie jeden tag
ich lese sie jeden tag
ich esse sie jeden tag
die welt ist meine chance
sie ändert mich jeden tag
meine chance ist meine poesie
herman de vries 1972
wer ohren hat, höre
wer augen hat, höre und sehe
wer hände hat, höre und sehe und tue
wer füße hat, höre und sehe und tue und gehe
wer einen mund hat, höre und sehe und tue und gehe und rede
und schweige
und schweige
und schweige
und rede.
Kurt Wolff
Aus: Insa Sparrer/Matthias Varga von Kibéd: GANZ IM GEGENTEIL, Carl Auer-Systeme Verlag 2000 (1), vgl. S 40 f. ( www.syst.info/was-ist-syst )
<<< "Die Tatsachen gehören alle nur zur Aufgabe, nicht zur Lösung."
Ludwig Wittgenstein weist uns hier auf eine wichtige Grundeinsicht für Querdenker hin, die den Umgang mit Aufgaben und Problemen im allgemeinen betrifft: Problem und Lösung sind von ganz unterschiedlicher Beschaffenheit. Die Tatsachen, das sind die Fakten, durch die wir das Problem bilden und zu verstehen glauben; aber die Lösung ist nicht einfach eine weitere Tatsache. Querdenker und das Querdenken hindern uns oft in nützlicher Weise daran, Lösungen an einem falschen Ort oder auf eine Weise zu suchen, die zu keinem Erfolg führen kann. ...
Um zu demonstrieren, wie es den Bedauernswerten gehen kann (und immer wieder gehen wird), denen es gelingt, die Stimme der inneren und äußeren Querdenker von sich fernzuhalten, .... (hier eine) Kostprobe von Mullah Nasreddins Weisheit (Nasreddin, von Afghanistan bis Marokko berühmt, eine Art türkischer Eulenspiegel, sein Grab liegt in Aksehir /Türkei - aber ob es ihn überhaupt gegeben hat, ist unklar - ein besonders konsequenter Querdenker!)
Nasreddin hatte beim abendlichen Heimweg seinen Hausschlüssel verloren. Er suchte und suchte und konnte ihn einfach nicht finden. Seine ausführliche Suche erregte die Aufmerksamkeit seiner Nachbarn, von denen sich einige zu ihm gesellten, um ihm bei der Suche beizustehen. Doch auch ihre Bemühungen waren vergeblich, bis einer von ihnen Nasreddin fragte, wo ungefähr er glaube, den Schlüssel verloren zu haben. "Ach, das war dort drüben!" sagte der Mullah mit verblüffender Sicherheit und wies auf einen dunklen Winkel nahe dem Haus. "Und warum suchen wir dann hier?" fragten erbost die Nachbarn. - "Weil es hier hell ist", erwiderte Nasreddin.
Nasreddin spiegelt die Menschen; er macht ihnen ihr Verhalten klar, indem er sich scheinbar absurd verhält. Wer solche Stimmen in sich und außerhalb von sich ungehört lässt, muss die Schlüssel für seine Probleme eben weiter am unpassenden Ort suchen. >>>
“Every man has some reminiscences
which he would not tell to everyone,
but only to his friends.
He has others
which he would not reveal even to his friends, but only to himself, and that in secret.
But finally there are still others
which a man is even afraid to tell himself,
and every decent man has
a considerable number
of such things stored away.
That is, one can even say that the more decent he is,
the greater the number of such things in his mind.”
Fyodor Dostoevsky
Angelika Offenhauser, Siebdruck 2018 - WO IST RUDI?
www.angelika-offenhauser.at
Was ist Leben
Leben
das ist die Wärme
des Wassers in meinem Bad
Leben
das ist mein Mund
an deinem offenen Schoß
Leben
das ist der Zorn
auf das Unrecht in unseren Ländern
Die Wärme des Wassers
genügt nicht
Ich muss auch drin plätschern
Mein Mund an deinem Schoß
genügt nicht
Ich muss ihn auch küssen
Der Zorn auf das Unrecht
genügt nicht
Wir müssen es auch ergründen
und etwas gegen es tun
Das ist Leben
Erich Fried
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären...
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit...
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Rainer Maria Rilke